„Volle Flugzeuge transportieren derzeit wieder Hunderte Menschen auf einmal – ohne den ansonsten geforderten Mindestabstand. Experten halten das für keine gute Idee.„
Von Christina Berndt
Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 19.06.2020 von Christina Berndt:
„Endlich wieder Malle! Am Montag hob von Düsseldorf die seit langem erste Lufthansa-Maschine voller Touristen ab Richtung Mallorca. Dass gerade eine Pandemie den Planeten umklammert, zeigten nur die Masken vor den Gesichtern der Reisenden. Ansonsten erinnerte nichts an die sonst gültigen Regeln zur Eindämmung von Covid-19. Abstand? Fehlanzeige – kein Platz war unbesetzt.
Treffen nur in Kleingruppen? In dem Flieger saßen ein paar hundert Leute dicht an dicht. Viele Menschen fragen sich seither, weshalb Flugreisen in vollen Maschinen nun wieder erlaubt sind, während etwa in Schulen und Kitas weiterhin strenge Einschränkungen gelten. Für Dieter Scholz sind die vollen Flieger auch eines: ein Ausdruck erfolgreicher Lobby-Arbeit. Der Flugzeugexperte von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg befasst sich seit Jahren mit Luftströmungen in Flugzeugen. Er sagt: „Anders als es die Luftfahrtindustrie behauptet, besteht im Flugzeug eine reale Gefahr, sich mit Sars-CoV-2 anzustecken.“
Der Bundesverband der Luftfahrtindustrie hat die Politik vor allem mit drei Kernaussagen davon überzeugt, dass Fliegen auch in Corona-Zeiten sicher sei – für den Einzelnen und damit auch für die pandemiebedrohte Gesellschaft. So betont die Industrie, dass die Luft in einem Flugzeug alle drei Minuten komplett erneuert werde, schließlich arbeiteten in den Klimaanlagen „High Efficiency Particulate Air“-Filter (HEPA). Die Luft in der Kabine sei damit so sauber wie in einem Operationssaal. Außerdem ströme die Luft im Flugzeug von oben nach unten. Und schließlich müssten die Passagiere Masken tragen.
Zunächst verteilen sich die Tröpfchen innerhalb einer Sitzreihe
Fakt ist: HEPA-Filter sind so effektiv, dass auch Viren hinter ihnen zurückbleiben. Dennoch stehen Virenwolken, die durch Husten, Niesen oder feuchtes Sprechen abgesondert werden, im Flugzeug minutenlang in der Luft, bevor sie vom Filter erfasst werden. „Die Qualität der Luft im Flugzeug ist vergleichbar mit einem Operationssaal, in dem 200 Personen um den OP-Tisch herumstehen“, sagt Scholz.
Mal abgesehen davon, dass die Passagiere mehr quasseln als Operateure und ihre Masken zwischendurch zum Essen und Trinken abnehmen. Außerdem verteilen sich die Viren im Flugzeug durchaus in die Breite und sinken den Passagieren nicht einfach vom Mund auf die nicht gefährdeten Füße. „Die Luft fällt nicht wie ein Vorhang von oben herunter“, sagt Scholz. „Zunächst verteilen sich die ausgestoßenen Tröpfchen innerhalb der Sitzreihe des infizierten Passagiers, aber danach geht es durch Turbulenz und Diffusion weiter nach vorn und hinten.“
Dem stimmt auch Qingyan Chen zu, ein Professor für Maschinenbau an der PurdueUniversity in Indiana, der die Ausbreitung von Hustentröpfchen in Flugzeugen simuliert hat: „Unsere Forschung zeigt, dass die Tröpfchen bis zu vier Minuten lang zirkulieren können.“ Erst dann werden sie aus dem Flugzeug herausbefördert. Problematisch kann die Virendichte vor allem dann werden, wenn die Klimaanlagen ausgeschaltet sind. Das war bisher regelmäßig an Flughäfen der Fall – mit dem Ziel, Treibstoff zu sparen. Künftig sollen die Fluggesellschaften sicherstellen, dass Passagiere nicht länger als 30 Minuten ohne Frischluftzufuhr in der Kabine sitzen, so sieht es das „COVID-19 Aviation Health Safety Protocol“ der Europäischen Agentur für Flugsicherheit vor. Doch das ist nur eine Empfehlung, die nicht bindend ist – wie im übrigen das gesamte Papier.
Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass es bei Sars-CoV-2 „in Flugzeugen zu einer Übertragung kommen kann“, wie eine Sprecherin der SZ mitteilte,“die Wahrscheinlichkeit scheint jedoch eher gering zu sein.“ Allerdings sei aufgrund der geringen Erfahrung mit dem Virus – bei noch dazu seit Monaten nahezu brach liegendem Flugverkehr – eine abschließende Bewertung derzeit nicht möglich.
Einzelne Berichte zur Ausbreitung von Covid-19 unter Flugreisenden existieren aber, etwa jener von chinesischen Forschern, die Ende März einen Flug von Singapur nach Hangzhou beschrieben: Während des fünfstündigen Fluges steckte ein Covid-19-Patient zwölf Mitreisende an. Ähnliche Berichte gibt es zu Influenza, Masern und auch zum Coronavirus Sars-CoV: Dieses gab im Jahr 2003 ein einzelner Infizierter auf einem dreistündigen Flug von Hongkong nach Peking an 20 von 120 seiner Mitreisenden weiter. Einer der Angesteckten saß fünf Reihen hinter ihm, zwei weitere sogar sieben Reihen vor ihm. Fliegen während der Pandemie ist demnach nicht nur mit einem Risiko für den Einzelnen verbunden, sondern kann auch zu einer zweiten Ansteckungswelle führen, die sich per Flugzeug schnell um die ganze Welt verbreiten würde. Plätze in der letzten Reihe am Fenster sind am sichersten Am gefährlichsten, sagt der Strömungsexperte Scholz, ist der Platz direkt neben einem kranken Passagier. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn Airlines den Mittelsitz freilassen müssten. …“
„Und wie ist es in der Bahn?
Dazu ist noch weniger bekannt als zum Flugzeug. Die Klimaanlagen in Zügen arbeiten jedenfalls anders. Sie sind nicht auf das Filtern von Viren ausgelegt, da die Bahn aufgrund ihrer erdnahen Fortbewegung mit mehr Frischluft arbeiten kann und die Luft nicht so stark wiederverwerten muss. Keime in Zügen wurden bisher recht wenig erforscht. „Die Klimaanlagen wurden vor allem auf den Komfort der Passagiere und eine gute Energieeffizienz ausgerichtet“, sagt der Aerodynamikforscher Claus Wagner vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt, der seit vielen Jahren das Strömungsverhalten der Luft in Bahnwaggons untersucht. „Dennoch liegen mehrere Vorteile des Bahnfahrens auch während der Pandemie auf der Hand: Züge sind in der Regel nicht so dicht besetzt wie Flugzeuge. Und wenn der Sitznachbar hustet und schnieft, kann man sich umsetzen – oder am nächsten Bahnhof ganz an die frische Luft gehen.“
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